Surgeon in medical apparel working with Futuristic Holographic Interface

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Chirurg bei der Arbeit mit einer futuristischen holografischen Schnittstelle, die medizinische Daten in Augmented Reality von einer künstlichen Intelligenz zeigt.

Guy Fagherazzi ist Direktor des Department of Precision Health am Luxembourg Institute of Health (LIH) sowie Leiter der Forschungseinheit Deep Digital Phenotyping. Er forscht im Bereich der digitalen Epidemiologie und der öffentlichen Gesundheit. Somit verfügt er über eine umfangreiche Erfahrung in der Analyse großer Bevölkerungsstudien mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI). Wir haben uns mit ihm über das Thema KI in der Medizin unterhalten, genauer gesagt in der medizinischen Diagnostik.

Dr. Fagherazzi, welche KI-Anwendungen gibt es bereits in der medizinischen Diagnostik? Welche funktionieren gut?

Man muss zwischen der gängigen klinischen Praxis, die heute von Ärzten und Patienten genutzt wird, und der medizinischen Forschung unterscheiden. In letzterer explodiert die Integration von KI gerade, vor allem wenn es darum geht, mit großen Mengen an Patientendaten oder biologischen Proben zu arbeiten. Es wird nun möglich, riesige Datenmengen auszuwerten, die zuvor nicht verarbeitet werden konnten.

Ausgehend von ihren Anfängen in der Forschung finden einige KI-Softwareprodukte nach vielversprechenden Testphasen ihre Anwendung bei Patienten. Der Bereich, der heute am stärksten beeinflusst wird, ist wahrscheinlich die medizinische Bildgebung. Deep Learning, ein Teilbereich der KI, funktioniert sehr gut mit bildähnlichen Daten wie Röntgen- oder MRT-Aufnahmen.

Ein konkretes Beispiel für eine Diagnose mithilfe von KI ist die diabetische Retinopathie, eine häufige Komplikation von Diabetes, die zu einem teilweisen oder vollständigen Verlust des Sehvermögens führen kann, wenn sie nicht früh genug behandelt wird. Eine bildgebende KI-Software, die von offiziellen Behörden zugelassen wurde, kann anhand einer Funduskopie (einer augenärztlichen Untersuchung) automatisch eine diabetische Retinopathie diagnostizieren.

Welche Neuerungen können wir in Zukunft erwarten?

Derzeit werden KI-Anwendungen in vielen Bereichen der Medizinentwickelt, aber unter anderem kann man Fortschritte in der Onkologie erwarten. Dies wird wiederum die Analyse von Bildern, z. B. von Mammographie-Daten, zur Erkennung und Analyse von Tumoren beinhalten. Daneben wird die Anwendung von KI auch in der Vorhersage von möglichen Krebserkrankungen anhand von Biomarkern erfolgen. Biomarker sind messbare Parameter biologischer Prozesse, die als Indikatoren für Pathologien in Blutproben verwendet werden.

Was sind die größten Vor- und/oder Nachteile von KI in der medizinischen Diagnostik?

Im Bereich der medizinischen Bildgebung liegt der Vorteil der KI gegenüber einem Experten häufig in der Geschwindigkeit, aber auch in der Genauigkeit und Reproduzierbarkeit der Analysen. Die KI wird systematisch die gleichen Ergebnisse liefern, aber man muss bedenken, dass auch dies nicht unfehlbar ist.

Verzerrungen in den Algorithmen der KI können immer auftreten und sind oft auf fehlerhaftes oder unvollständiges Training zurückzuführen. Karikaturistisch ausgedrückt: Wenn ein Algorithmus nur mit den Daten von Männern im Alter von etwa 50 Jahren trainiert wird, wird seine Anwendung auf junge Frauen nicht richtig funktionieren und möglicherweise falsche Ergebnisse liefern. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Daten für das Training der Algorithmen von hoher Qualität sind.

Wird KI Ärzte ersetzen?

KI sollte Ärzte nicht ersetzen. Medizinisches Personal wird weiterhin für den Austausch mit den Patienten während der Sprechstunden unverzichtbar sein. Was man sich jedoch vorstellen kann, ist, dass Ärzte, welche KI einsetzen, diejenigen ersetzen werden, die dies nicht tun. Die Anwendung von KI wird ihnen helfen, bessere Diagnosen zu stellen und so wertvolle Zeit zu sparen.

Die Integration von KI in die Sprechstunde, sei es für administrative Aufgaben oder für eine schnellere Diagnose, soll den Ärzten helfen, mehr Zeit für die menschliche Beziehung zum Patienten aufzubringen. Es handelt sich also um eine sehr positive Auswirkung und die KI könnte so helfen, den menschlichen Aspekt wieder mehr in die medizinische Beratung einbringen.

Wer haftet im Falle eines Fehlers der KI?

Die Frage nach der Haftung im Falle eines Fehlers der KI stellt sich insbesondere bei einer Software, die selbstständig Diagnosen erstellt. Für den Fall, dass Ärzte oder Experten noch in den Entscheidungsprozess involviert sind, selbst wenn sie KI einsetzen, wird die endgültige Verantwortung immer noch auf den behandelnden Menschen fallen. Ist dies nicht der Fall, wird die Diskussion sehr komplex, da sie Fragen der Ethik, der Datensicherheit und natürlich der Gesetzgebung mit einbezieht. In Zukunft müssen weitere Vorschriften und Richtlinien ausgearbeitet werden, um die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten.

Welche Art von Forschung zu diesem Thema wird in Luxemburg betrieben?

In Luxemburg findet die KI Anwendung in zahlreichen Forschungsprojekten, die im Bereich der Präzisionsmedizin durchgeführt werden. Die Präzsionsmedizin zielt darauf ab, eine angepasste Diagnose sowie eine personalisierte Behandlung für jeden Patienten anzubieten.

In meinem Team arbeiten wir zum Beispiel an sprachbasierten Biomarkern. Unser Ziel ist es, die Betreuung und Behandlung von Patienten auf der Grundlage von Sprachaufnahmen besser anzupassen und zu personalisieren. Dazu werden Audiomerkmale, die aus Sprachproben extrahiert werden, verwendet, um Machine-Learning- und Deep-Learning-Algorithmen zu trainieren, welche wiederum stimmliche Biomarker identifizieren sollen, die vorhersagen können, ob Symptome oder Krankheiten wie z. B. Diabetes oder Krebs vorhanden sind.

Mit dem Forschungsprogramm "Colive Voice" sammeln wir Sprachproben, um die für diese Anwendungen genutzte Datenbank zu vergrößern.

Ab 15 Jahren kann man an diesem Programm teilnehmen und wir ermutigen alle Menschen, unabhängig von ihrem Gesundheitszustand, dazu beizutragen. Zögern Sie also nicht, die Website zu besuchen und Ihre Stimme der Forschung zu spenden!

Hier der Link zum Projekt: https://www.colivevoice.org. Mehr Infos über das Projekt ebenfalls in diesem Artikel aus unserem Archiv:

Autorin: Sarah Roth
Rédaktion: Michèle Weber, Lucie Zeches, Jean-Paul Bertemes, (FNR)
Fotos: Guy Fagherazzi - Pauline de Courrèges; Hauptfoto - Adobe Stock.

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